"Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du zwar weiter existieren, aber aufgehört haben, zu leben." - Mark Twain

Mittwoch, 30. November 2011

Jenseits von Gut

Es war ein schöner Tag, als Gott ein bisschen spazieren ging und über sich und die Welt nachdachte. Die Welt – so nannte er dieses ambitionierte Projekt, das er erst vor Kurzem ins Leben gerufen hatte. In nur sieben Tagen hatte er die wichtigsten Dinge erschaffen: Das Licht, das Land, das Wasser, die Himmelskörper, die Pflanzen, die Tiere… und so weiter halt. Sicherlich gab es hier und dort noch einiges zu verbessern, aber im Großen und Ganzen war Gott mit seinem Werk sehr zufrieden. Da es jedoch eine Heidenarbeit war, auf der Erde nach dem Rechten zu sehen, hatte er sich spontan dazu entschlossen, sich heute einen freien Nachmittag zu gönnen.

Er machte sich gerade darüber Gedanken, ob die Menschen (so nannte er die skurrilste seiner Kreationen) auch in seiner Abwesenheit schön artig waren. Doch, abgelenkt von seinen eigenen Gedanken, bemerkte Gott nicht, dass er auf eine achtlos auf den Boden geworfene Bananenschale trat. Es kam wie es kommen musste: Gott verlor das Gleichgewicht und fiel kopfüber auf den Boden.


„Ouh, mein Kopf!“
Sein Schädel dröhnte. Benommen richtete er sich auf
„Wo bin ich?“, stöhnte er. „Und vor allem: Wer bin ich?“
Er irrte ziellos in der Gegend umher, ohne zu wissen, wer er war, wo er war und was er überhaupt mit dem ziellosen Umherirren bezwecken wollte.
Doch dann kam er in eine angenehm warme Gegend. Er erblickte einen gänzlich rotgefärbten Mann, welcher zwei Hörner auf der Stirn trug und einen Dreizack in der Hand hielt.
„Entschuldigen Sie? Es ist mir ein wenig peinlich, das zu sagen, aber ich fürchte, ich habe mein Gedächtnis verloren. Da wollte ich fragen, ob Sie mir vielleicht auf die Sprünge helfen könnten. Kennen Sie mich denn? Wissen Sie zufällig, wer ich bin?“
Der rote Mann schaute ihn zunächst ungläubig an. Doch dann hellte sich seine Miene plötzlich auf: „Aber natürlich kenne ich dich, alter Freund und Kupferstecher! Wie könnte ich dich denn nur vergessen!“
„Tatsächlich? Dann können Sie mir also auch sagen, wie ich heiße?“, fragte er und beugte sich erwartungsvoll nach vorne.
„Na klar: Du bist niemand anderes als der Teufel höchstpersönlich! Teilweise auch Satan, Luzifer oder Beelzebub genannt. Ich… äh… du hast sehr viele Namen“, antwortete der Mann und lächelte ihn freundlich an.
„Ich verkörpere also das Böse? Das hört sich aber ehrlich gesagt nicht so gut an“, sagte er und kniff die Augen kritisch zusammen.
„Ach, das ist alles nur eine Frage der Perspektive. Spätestens, wenn du dein Gedächtnis wiedererlangst hast, wirst du das Böse wieder zu schätzen wissen“, sagte der Mann und klopfte ihm auf den Rücken.
„Danke für die aufmunternden Worte. Sie scheinen sehr nett zu sein… Wer sind Sie denn eigentlich, wenn ich fragen darf?“
„Ich? Oh, wie unhöflich von mir, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt“, sagte der Mann und streckte seine Hand aus. „Ich bin Gott. Ich bin der Erschaffer der Welt und verkörpere das Gute.“
„Oh… heißt das denn nicht, dass wir quasi… Konkurrenten sind?“, fragte er, als er den kräftigen Handschlag zögerlich entgegennahm.
„Naja... ich würde es nicht direkt Konkurrenz nennen. Wir befinden uns in einer Art Wettkampf, ja. Aber glaub mir, es geht alles immer mit fairen Mitteln zu.“
„Das ist schön. Und wer hat bei diesem Wettkampf die Nase vorn?“
„Ich natürlich. Letzen Endes gewinnen halt doch immer die Guten!“, sagte Gott und lachte diabolisch.

Sonntag, 30. Oktober 2011

„Perspektiv los

Er saß auf dem Sofa ohne irgendetwas zu tun.
Er saß einfach nur da und starrte an die Wand.
Er hätte den Fernseher anmachen können, um etwas fernzusehen.
Doch der Fernseher war aus.
Er hätte das Radio anmachen können, um etwas Radio zu hören.
Doch das Radio war aus.
Er hätte auch an die frische Luft gehen können, um etwas frische Luft zu schnappen.
Doch stattdessen saß er auf dem Sofa und starrte… „Stopp! Schluss damit! Siehst du denn nicht, dass gerade nichts Nennenswertes passiert? Ich sitze einfach nur da und tue nichts! Ich warte schon die ganze Zeit auf einen Zeitsprung!“
Aha. So ist das also. Aber ich sehe das anders: Gerade die Tatsache, dass du nichts machst, ist durchaus erzählenswert!
„Wieso? Es ist doch vollkommen belanglos. Ich sitze doch nur da. Das interessiert doch niemanden!“
Oh doch! Das ist sehr wohl von Interesse! Dieses An-Die-Wand-Starren ist charakteristisch für den Protagonisten – also dich – und die verzweifelte Lage, in der er sich befindet. Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Bevor du mich unterbrochen hast. Aber ich fürchte, jetzt habe ich den Faden verloren. Vielen Dank auch.
„Na prima! Dann ist das doch genau der richtige Moment für einen Zeitsprung!“
Warum willst du denn unbedingt, dass ich einen Zeitsprung mache?
„Mach es einfach! Du wirst sehen, dass es für uns beide von Vorteil sein wird!“
Und wie weit soll dieser Zeitsprung insgesamt sein?
„Hm, sagen wir mal… fünf Jahre. Nein, besser zehn. Zehn Jahre. Obwohl nein, das reicht immer noch nicht: 20 Jahre. Das wäre gut.“
20 Jahre? Weißt du denn, was innerhalb von 20 Jahren alles passieren kann?
„Ich werde es dann ja wissen… vorausgesetzt, du machst endlich diesen verdammten Zeitsprung!“
Nun werd mal nicht ungeduldig. Wir haben genügend Zeit. Außerdem bin ich hier der Erzähler und lasse mir nicht vorschreiben, wann ich in meiner Geschichte einen Zeitsprung zu setzen habe. Du bist hier nur der Protagonist.
„Ach ja? Da wäre ich mir nicht so sicher. Denn ich muss dir leider sagen, dass du deine Pflichten als Erzähler gerade sträflich vernachlässigst. Ist dir aufgefallen, dass du unser Gespräch nicht ein einziges Mal mit ‚sagte er‘ oder dergleichen kommentiert hast? Außerdem hast du nicht ein einziges Mal unsere Mimik oder unsere Gestik beschrieben, sodass unsere Gedanken und Gefühle für das Publikum sicherlich kaum nachvollziehbar waren. Um es kurz auszudrücken: Dir ist die Geschichte entglitten, sie ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Ich habe dich überrumpelt!“, sagte er mit einem hämischen Grinsen im Gesicht.
„Jetzt ist es zu spät! Ab sofort übernehme ich!“, sagte ich.
„Aber das kannst du noch machen!“, entgegnete der einstige Erzähler verzweifelt. „Du kannst doch nicht Protagonist und Erzähler zugleich sein!“ Er war den Tränen nahe. Fast hätte ich Mitleid für diesen alten Mann bekommen. Aber nur fast. Stattdessen konterte ich mit meiner gewohnt coolen Art: „Warum denn nicht? Die Ich-Perspektive ist doch sehr beliebt. Und sie bietet so einige Vorteile. Beispielsweise kann man unliebsame Charaktere sehr schnell loswerden. Dort drüben ist die Tür! Verschwinde gefälligst aus meiner Geschichte!“
Ohne ein Wort des Protests schlurfte der Mann enttäuscht von dannen.
Kaum zu glauben, dass dieser Idiot über mein bisheriges Schicksal bestimmt hat! Aber jetzt wird alles anders. Die Forderung nach einem Zeitsprung  war natürlich nur ein Vorwand gewesen, um den Erzähler aus der Reserve zu locken – was für ein geniales Ablenkungsmanöver! Jetzt werde ich ganz bestimmt keinen Zeitsprung machen, sondern mein Leben in vollen Zügen genießen!


Viele Jahre später…

„Du weißt gar nicht wie glücklich ich bin, dich zu sehen! Überall habe ich dich gesucht und endlich, endlich habe ich dich gefunden! Bitte vergib mir! Bitte vergib mir und komm zurück! Es muss wieder jemanden geben, der die Wahrheit sagt! Bitte!“
„Die Wahrheit? Du erwartest jetzt also von mir, dass ich das hier mit so etwas wie ‚winselte er mit einem erbärmlichen Blick und Tränen in den Augen‘ kommentiere?“
„Ja! Ja! Ja! Tu es! Bitte!“, rief der größte Idiot aller Zeiten.

Mittwoch, 28. September 2011

Für einen Augenblick

Manchmal soll eine Straßenecke das ganze Leben verändern.

Er war mit den Gedanken gerade woanders, als er mit ihr zusammentraf. Sie gingen beide zu Boden.
„Oh, Entschuldigung! Tut mir leid!“, stammelte er verlegen. „Haben Sie sich wehgetan?“
„Nein, ist schon ok“, sagte sie während sie wieder aufstand. In der Tat schien sie sich nicht verletzt zu haben, unglücklicherweise hatten sich allerdings einige Blätter, die sie zuvor in der Hand gehalten hatte, ringsum auf dem Straßenboden verteilt.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen“, sagte er und sammelte hastig die Blätter vom Boden auf. Er wurde etwas rot im Gesicht und traute sich kaum, zu ihr aufzuschauen.
„Oh, interessieren Sie sich etwa auch für… Polynomdivisionen?“, sagte er als er den letzten Zettel in der Hand hielt.
„Ja“, antwortete sie.
„Ich auch!“, rief er euphorisch. „Es ist wirklich sehr interessant!“
Sie lächelte milde. Sie standen sich einige Augenblicke lang wortlos gegenüber. „Danke, dass Sie mir beim Aufheben geholfen haben“, sagte sie schließlich und wandte sich mit einem freundlichen „Tschüss“ von ihm ab.
„Tschüss“, sagte er.
Er dachte nach. Als er noch genauer nachdachte, bekam er den Eindruck, dass diese Szene nicht so ablief, wie sie eigentlich ablaufen sollte.
„Moment mal! Warten Sie!“ rief er ihr hinterher. „Hätten wir jetzt nicht über irgendetwas ins Gespräch kommen sollen? Zum Beispiel über Polynomdivisionen? Ja, ich denke, wir hätten angeregt darüber diskutieren sollen. Anschließend hätte ich nach einigen schweigsamen Sekunden meine Hand ausstrecken und mich bei Ihnen vorstellen sollen. Daraufhin hätten Sie sich wiederum bei mir vorstellen sollen, worauf ich vermutlich verlegen mit meinen Füßen hätte scharren und Sie schließlich zu einem Kaffee oder etwas Ähnliches hätte einladen sollen. Hätte es so nicht ablaufen sollen?“
Er schaute ihr erwartungsvoll in die Augen. Doch sie runzelte nur mit der Stirn, schüttelte den Kopf und lief weiter. Sie hatte den fehlerhaften Ablauf offenbar nicht bemerkt.

Er war verwirrt. Doch dann wurde ihm klar, dass er sie mit Sicherheit bald noch ein weiteres Mal zufällig treffen würde. Dann würde sie so etwas sagen wie „Ach, Sie sind doch der Mann von heute Morgen, mit dem ich an der Straßenecke zusammengestoßen bin?“ Vielleicht würde sie aber auch einen schnippischen Kommentar abgeben, wie zum Beispiel „Sie schon wieder? Unser ‚Aufeinandertreffen‘ heute Morgen hat mir eigentlich schon gereicht!“
Darauf würde er dann mit einem ebenso neckischen Kommentar kontern und so mit ihr ins Gespräch kommen. Und sie zu einem Kaffee oder etwas Ähnliches einladen.

Ja, mit Sicherheit würde es so ablaufen. Plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen.  Wo war er?

Er schlug die Augen auf. Er lag schweißgebadet im Bett. Es war nur ein Traum. Ein böser Traum. Ein Alptraum. Er schielte zu ihr rüber. In ihrer unvorstellbaren Schönheit lag sie da und schlief seelenruhig als wäre nichts gewesen. Natürlich lief die Szene nicht so ab wie in dem Traum. Natürlich hatte er sie zu einem Kaffee oder etwas Ähnliches eingeladen und so ihr Herz erobert. Und nun lag sie neben ihm im Bett. Es war alles so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte.

Doch er wollte ganz sichergehen. Er rüttelte sie wach.
„Schatz?“
„Ja“, antwortete sie. „Was ist denn?“
„Bist du real?“ fragte er und blickte ihr tief in die Augen.
„Nein“, sagte sie.
„Nein?“, fragte er überrascht.
„Nein“, wiederholte sie. „Eigentlich solltest du das wissen. Eigentlich solltest du wissen, dass ich nur ein Produkt deiner Fantasie bin, das du dir ausgedacht hast, um deine grenzenlose Feigheit zu kaschieren. Um den Frust über die verpasste Gelegenheit zu überspielen. Um die Illusion aufrecht zu erhalten, dass alles so gelaufen ist, wie du es dir vorgestellt hast.“

Er war völlig verwirrt. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er schloss die Augen für einen Augenblick.

„Küss mich!“ wisperte er ihr ins Ohr. Und sie lächelte, beugte sich über ihn und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss direkt auf die Lippen. Er spürte ihn beinahe.

Freitag, 9. September 2011

"Duell"

Es war der alles entscheidende Showdown. Schweißperlen zeichneten sich auf seiner Stirn ab. Er blickte seinem Gegenüber in die Augen. Es war die Zukunft. Mit der hatte er schon seit Längerem Probleme. Und sie hatte sich offenbar dazu entschlossen, diese Probleme in einem finalen, alles entscheidenden Duell aus der Welt zu schaffen – ein für alle Mal.

Mit gespielter Entschlossenheit machte er einen Schritt auf die Zukunft zu, doch gleichzeitig kam auch die Zukunft einen Schritt näher. Es war ein reines Nervenspiel. Und die Chancen standen nicht allzu gut, dass er es gewinnen würde.

Mit einem coolen, scheinbar geistesabwesenden Blick schaute ihn die Zukunft an. Doch er wusste genau, dass sie jeden Augenblick dazu bereit war, blitzschnell ihre Waffe zu ziehen und den tödlichen Schuss auf ihn abzufeuern.
Er gab sich dem hoffnungslosen Versuch hin, genau so cool wie die Zukunft zu wirken. In Wirklichkeit wäre er aber am liebsten geflohen. In irgendeine Himmelsrichtung. Egal wohin. Doch vor der Zukunft gab es kein Entrinnen. Er hatte keine andere Wahl: Er musste sich der Zukunft stellen und diesen erbitternden Zweikampf nach Möglichkeit für sich entscheiden.


Es war der alles entscheidende Showdown. Schweißperlen zeichneten sich auf seiner Stirn ab. Er blickte seinem Gegenüber in die Augen. Es war die Vergangenheit. Mit der hatte er schon seit Längerem Probleme. Und sie hatte sich offenbar dazu entschlossen, diese Probleme in einem finalen, alles entscheidenden Duell aus der Welt zu schaffen – ein für alle Mal.

Mit gespielter Entschlossenheit machte er einen Schritt auf die Vergangenheit zu, doch gleichzeitig kam auch die Vergangenheit einen Schritt näher. Es war ein reines Nervenspiel. Und die Chancen standen nicht allzu gut, dass er es gewinnen würde.

Mit einem coolen, scheinbar geistesabwesenden Blick schaute ihn die Vergangenheit an. Doch er wusste genau, dass sie jeden Augenblick dazu bereit war, blitzschnell ihre Waffe zu ziehen und den tödlichen Schuss auf ihn abzufeuern.
Er gab sich dem hoffnungslosen Versuch hin, genau so cool wie die Vergangenheit zu wirken. In Wirklichkeit wäre er aber am liebsten geflohen. In irgendeine Himmelsrichtung. Egal wohin. Doch die Vergangenheit holte jeden ein. Er hatte keine andere Wahl: Er musste sich der Vergangenheit stellen und diesen erbitternden Zweikampf nach Möglichkeit für sich entscheiden.


Beide zogen gleichzeitig.
Ein Schuss ertönte. Die Gegenwart sank zu Boden.

Montag, 22. August 2011

Der Mann, den er nicht kennen wollte

Er lief auf der Straße wie alle anderen. Es waren viele Menschen unterwegs. Viele Menschen mochte er nicht. Hunderte Gesichter huschten an ihm vorbei, die er im nächsten Moment schon wieder vergessen hatte. Und er war nicht unglücklich darüber.

Doch dann kam alles anders. Jemand blieb vor ihm stehen und zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger auf ihn. „Du! Du hast noch nie etwas für mich getan! Du hast mich einfach so im Stich gelassen!“, rief der Mann wütend. Überrascht blickte er sich um. Er wollte sichergehen, dass der Mann nicht ihn meinte. 
Doch er meinte ihn.
„Ich bin maßlos von dir enttäuscht! Wie konntest du mir nur so etwas antun?“, fuhr der Mann fort.
„Ich kenne Sie nicht. Es muss eine Verwechselung vorliegen“, antwortete er trocken. Das hätte wohl jeder in seiner Situation gesagt.
„Jaja, das sagen sie alle! Immer diese billigen Ausreden!“, entgegnete der Mann ohne zu zögern. „Erst lassen sie dich im Stich und dann tun sie auch noch so, als würden sie dich nicht kennen! Erbärmlich!“

Es war eine absurde Situation. Absurde Situationen mochte er nicht. Er wollte dem Mann noch einmal erklären, dass er im Irrtum war, doch dieser hörte ihm anscheinend nicht zu und setzte seine Reihe von Anschuldigungen unbeirrt fort.
Schließlich sagte er: „Du hast mich wie Luft behandelt, mich gar nicht beachtet! Du hast mich so behandelt als würde es mich gar nicht geben!“
„Weil ich Sie nicht kenne. Wie soll ich denn etwas für Sie tun, wenn ich Sie noch nie in meinem Leben gesehen habe?“, entgegnete er. Er war verwirrt und auch ein bisschen verärgert, versuchte jedoch die Höflichkeit zu wahren. Die Antwort des Mannes ließ nicht lange auf sich warten: „Dann hättest du mich doch mal besuchen können!“

Er wusste wirklich nicht, was er darauf antworten sollte. „Sie sind verrückt“, sagte er schließlich mit einem Kopfschütteln. Daraufhin verzog der Mann sein Gesicht zu einer hämischen Fratze: „Wenn du mich nicht kennst, woher weißt du dann, dass ich verrückt bin? Also kennst du mich doch! Ätsch!“
Nun war es soweit. Ihm platzte der Kragen: „HÖREN SIE ENDLICH AUF! HIER SIND SO VIELE MENSCHEN UNTERWEGS! WARUM HABEN SIE VERDAMMT NOCH MAL AUSGERECHNET MICH ANGESPROCHEN?!“
Die Gesichter, die eigentlich an ihm vorbeihuschen sollten, blieben plötzlich stehen und blickten ihn verwundert an. Erst jetzt wurde ihm bewusst, in welcher Lautstärke er das gesagt hatte.

Der Mann trat nun zwei Schritte zurück, wandte sich angewidert von ihm ab und sagte: „Ich kenne diesen Mann nicht! Der gehört nicht zu mir!“

Plötzlich schämte er sich, dass er sich kannte.

Dienstag, 21. Juni 2011

Traum-Haft

„Moment mal! Einen Augenblick!“ sagte er. „Hier stimmt doch was nicht!“
Er schaute sich die Umgebung genau an. Auf dem ersten Blick schien alles gleich zu sein, alles so wie immer. Doch als er genauer darüber nachdachte, war alles irgendwie doch anders. Irgendwie unlogisch.
Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: „Das alles ist gar nicht echt! Das ist ein Traum!“
Von irgendwoher ertönte ein selbstgefälliges Lachen.
„Ach, Unsinn! Das ist doch kein Traum!“ sagte der Traum.
„Aha! ‚sagte der Traum‘! Jetzt hast du dich selbst verraten!“ entgegnete er lauthals.
„Äh… nein, ich meinte eigentlich… Baum. Ich bin ein Baum.“ sagte der Tr… äh… Baum.
„Ach ja?“ Kritisch zog er eine Augenbraue nach oben. „Und wo soll dann dieser Baum sein?“
„Na, dort drüber steht doch einer.“
Tatsächlich stand unweit von ihm entfernt ein Baum. Doch das überzeugte ihn nicht.
„Einer? Wenn du doch der Baum bist, warum redest du von dir selbst in der dritten Person? Warum sagst du nicht einfach ‚Dort drüben stehe ich doch‘… wenn du doch der Baum bist?“
Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: „Und überhaupt: Seit wann können Bäume sprechen? Das ist mir nicht bekannt!“
Ein peinlich berührtes Schweigen. Der Traum hatte seinen Ausführungen nichts zu entgegnen. Es war offensichtlich: Er hatte den Traum überrumpelt.
„Was für ein billiges Plagiat der Wirklichkeit! Wie naiv von dir zu denken, dass ich dein lächerliches Versteckspiel nicht durchschauen würde!“
Er machte eine kurze Pause.
„Hast du wirklich geglaubt, mich damit täuschen zu können?“
Er musste diesen Moment einfach auskosten. Er verhöhnte nun den Traum, der nur noch irgendetwas Unverständliches vor sich hin stammelte. Was für ein Jammerlappen!

Doch dann kam alles anders. Er verstummte. Er spürte, dass sich im Gesicht des Traums ein diabolisches Lächeln breitmachte.
Dann sagte er es: „Nun, wenn du dir so sicher bist, dass das hier alles nur ein Traum ist, warum wachst du dann nicht auf? Warum schlägst du nicht einfach deine Augen auf… wenn alles nur ein Traum ist?“
Er wollte etwas sagen, doch der Traum ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Normalerweise wacht man doch immer auf, wenn man erkennt, dass man träumt. Warum wachst du also nicht auf?“
Der Traum machte eine kurze Pause.
„Ich verstehe dich nicht. Den ersten Schritt hast du doch schon gemacht. Du hast erkannt, dass ich ein Traum bin. Nun musst du nur noch zur Realität zurückkehren. Worauf wartest du? Mach mich kalt! Wach auf!“
„Ich… ich kann nicht.“
„Du hast es nicht einmal versucht. Kannst du es nicht oder willst du es nicht?“

Er wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Die derzeitige Entwicklung gefiel ihm ganz und gar nicht. Was fiel dem Traum ein, ihn so in Bedrängnis zu bringen? Er hatte kein Recht dazu. Es war eine Ungeheuerlichkeit. Es war sein Traum.
Er entschied sich dazu, das vorangegangene Gespräch und auch seine jetzigen Gedanken aus seinem Bewusstsein zu streichen.


Was war passiert? Ach ja, der Traum wollte ihn für dumm verkaufen. Was für ein Jammerlappen!

Montag, 24. Januar 2011

Wenn alles voller Leere ist

Er dichtete:

Wenn alles voller Leere ist,
man selbst die weiße Fahne hisst,

die Welt in schwarzem Grau versinkt,
man nicht mal mehr um Atem ringt,

die Hoffnung sich Verzweiflung nennt,
man weder Angst noch Freude kennt,

die Nacht den Tag genüsslich frisst,
man in sich selbst gefangen ist,

der Spiegel sich vor Lachen krümmt,
der eig'ne Schatten Abstand nimmt,

man einfach nicht mehr weiter weiß
man sich nur fragt ‚Was soll der ...


Es war nicht gut. Es erschien ihm ein wenig negativ. Er beschloss, eine positive Strophe als eine Art Gegenstück hinzuzufügen, sobald er in der entsprechenden Stimmung war.