"Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du zwar weiter existieren, aber aufgehört haben, zu leben." - Mark Twain

Donnerstag, 2. Mai 2013

Zambaramba


Es war ein lauer Nachmittag im Spätsommer. Wie immer um diese Tageszeit saß er in dem von ihm präferierten Café in der Weststadt und studierte die hiesige Tageszeitung.

Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, sprang ein ihm unbekannter Mann um die Ecke und rief, wohlgemerkt mit voller Inbrunst:

„Zambaaarambaaaaaaaaaaaaa!“

Gleichzeitig begann der Mann, sich rhythmisch zu einer nicht vorhandenen Musik zu bewegen.

Dieses Szenario, das er mit einem Stirnrunzeln verfolgte, ereignete sich in unmittelbarer Nähe zu seinem Tisch. Er war verwundert. Was hatte das zu bedeuten? Es war nicht etwa der Auftritt an sich, der ihn ins Erstaunen versetzte, sondern vielmehr die Wortwahl des unbekannten Mannes. Warum sagte er ‚Zambaramba‘ und nicht ‚Rambazamba‘ wie es doch eigentlich hieß? Hatte er sich nur versprochen und das R und das Z miteinander vertauscht? Oder wurde dieser Fehler etwa in voller Absicht begangen? Es war ihm äußerst suspekt.


Schließlich fasste er den Beschluss, den Mann anzusprechen:
„Zambaramba? Was soll denn das heißen? Meinen Sie etwa ‚Rambazamba‘? Falls ja: Es heißt ‚Rambazamba‘. Und nicht ‚Zambaramba‘.“

Der Mann blieb stehen und schaute ihn mit großen Augen an.

„Zambaaarambaaaaaaaaaaaaa!“, rief er in der gleichen Lautstärke wie zuvor, während er erneut in seinen rhythmischen Tanz zu einer weiterhin nicht vorhandenen Musik verfiel.

Wie kam dieser Mann nur auf die Idee, dass das Wort ‚Zambaramba‘ heißen sollte? Nach seinem Kenntnisstand gab es ein solches Wort nicht. Aber er wollte sichergehen. Deshalb tippte er seinen Nebenmann an, der von dem Spektakel bislang offenbar gar keine Notiz genommen hatte.
„Entschuldigen Sie, ich habe eine kurze Frage. Dieser Mann hier behauptet steif und fest, dass es ‚Zambaramba‘ heißt. Dabei heißt es doch ‚Rambazamba‘. Das Wort ‚Zambaramba‘ gibt es schließlich gar nicht, oder?“

Der von ihm angetippte Mann schaute ihn mit großen Augen an.

„Zambaaarambaaaaaaaaaaaaa!“, rief er. Zeitgleich erhob er sich von seinem Platz und begann sich ebenfalls zu der bereits erwähnten, nicht vorhandenen Musik zu bewegen.

Er verdrehte die Augen. Offenbar vertrat auch dieser Mann die irrtümliche Meinung, dass es ‚Zambaramba‘ hieß. Er war gewillt, sich wieder seiner Tageszeitung zuzuwenden, doch er konnte sich aufgrund dieses augenscheinlichen Fehlers nicht mehr recht konzentrieren. Er musste noch eine weitere Person konsultieren. So machte er eine vernünftig aussehende Frau auf sich aufmerksam, die nicht weit von ihm entfernt saß.
„Entschuldigen Sie, ich habe eine kurze Frage. Diese beiden Männer hier behaupten allen Ernstes, dass es ‚Zambaramba‘ heißt. Dabei heißt es doch ‚Rambazamba‘. Ist das nicht lächerlich? Schließlich ist es doch offensichtlich, dass es ‚Rambazamba‘ heißt, oder?“

Die von ihm angesprochene Frau schaute ihn mit großen Augen an. Er ahnte es bereits.

„Zambaaarambaaaaaaaaaaaaa!“, rief sie. Und schon stimmte sie in den rhythmischen Tanz der beiden Männer mit ein, immer noch der bereits bekannten, jedoch nicht vorhandenen Musik folgend.

Er wurde wütend. Wie konnten sich diese drei Personen nur anmaßen, das Wort derart falsch zu verwenden? ‚Rambazamba‘ – so hieß das Wort doch schon immer, wieso wurde diese unnötige Änderung vorgenommen? Oder handelte es sich gar nicht um eine Änderung? Existierte womöglich tatsächlich das Wort ‚Zambaramba‘ und es war ihm bislang nur noch nicht zu Ohren gekommen? Nein, das war Unsinn. Das Wort ‚Zambaramba‘ gab es noch nie, gibt es nicht und wird es auch nie geben. Basta.

Von seinen eigenen Gedanken bestärkt, erhob er sich wutentbrannt von seinem Platz und rief in einer derartigen Lautstärke, dass es alle Gäste des Cafés vernehmen konnten:
„Aufhören! Hört auf damit! Das Wort ‚Zambaramba‘ gibt es nicht!  Das ist gar kein richtiges Wort! Dieser Mann hier hat es sich ausgedacht, um Verwirrung zu stiften! Es heißt ‚Rambazamba‘! Rambazamba! Ihr wollt doch nicht auf ihn reinfallen, oder?“


Er blickte sich um. Allseits wurde er mit großen Augen angeschaut. Es kam, wie es kommen musste:

„Zambaaarambaaaaaaaaaaaaa!“, ertönte es aus einer Ecke.
„Zambaaarambaaaaaaaaaaaaa!“, war in einer zweiten zu hören.
„Zambaaarambaaaaaaaaaaaaa!“, „Zambaaarambaaaaaaaaaaaaa!“,
„Zambaaarambaaaaaaaaaaaaa!“, erschallte es rings um ihn herum.
Währenddessen standen nach und nach alle Gäste des Cafés auf und fingen an, sich zu ebenjener nicht vorhandenen Musik zu bewegen, die inzwischen hinlänglich bekannt sein sollte.

Er war verwirrt. Er wusste nicht, wie er auf das bunte Treiben um ihn herum reagieren sollte und suchte verzweifelt nach einer Lösung für diese prekäre Situation. Doch als er nur einen kurzen Moment lang nicht nachdachte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Es hieß ‚Zambaramba‘. Es musste ‚Zambaramba‘ heißen. Wie hatte er nur denken können, dass es... Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er das Wort vorher fälschlicherweise bezeichnet hatte. Doch das war nun nicht mehr von Belang.

„Zambaaarambaaaaaaaaaaaaa!“, rief er mit voller Inbrunst.

Und endlich, endlich hörte er die nicht vorhandene Musik, zu der er sich rhythmisch zu bewegen begann.

Freitag, 5. Oktober 2012

Der Trümmerhaufen


Als er sich umblickte, fand er einen Trümmerhaufen vor.

Urplötzlich, wie aus dem Nichts, tauchte ein Mann aus dem Schutt hervor. Der Mann war stattlich gekleidet, trug er doch einen Anzug mit Krawatte. In der Hand hielt er eine Aktentasche. 

„Was haben Sie da nur angerichtet?“, rief der Mann, während er auf ihn zulief. „Es ist hier ja alles zerstört! Ein einziger Trümmerhaufen!“
„Ich?“, antwortete er entrüstet. „Ich war das nicht! Das war schon so!“
Der Mann, inzwischen bei ihm angelangt, wischte sich zunächst den Staub von seinem Anzug und stellte die Aktentasche neben sich ab. All das geschah mit einer derartigen Seelenruhe, sodass es nur umso erstaunlicher war, dass der Mann nun tief Luft holte und mit erhobenem Zeigefinger zum Gegenschlag ansetzte:
„Nun reden Sie sich doch nicht raus! Sie sind weit und breit die einzige Menschenseele, die hier steht und behaupten dennoch steif und fest, nicht für diesen Trümmerhaufen verantwortlich zu sein? Mit Verlaub, mein Herr, aber denken Sie denn tatsächlich, mich so leicht zum Narren halten zu können? Denken Sie nicht, dass Sie sich im Augenblick ein wenig lächerlich machen?“
„Nein, das denke ich nicht“, antwortete er trocken. „Ich habe mich lediglich umgeblickt und bekam diesen Trümmerhaufen zu Gesichte. Es ist mir schleierhaft, wo er herkommt und ebensowenig kann ich Ihnen Auskunft darüber erteilen, wer dafür zur Rechenschaft gezogen werden muss.“
„Mein Herr“, erwiderte der Mann, „diese Ausreden sind mir bereits hinlänglich bekannt. Ich fasse mich daher kurz: Entfernen Sie diesen Trümmerhaufen – und zwar unverzüglich!“
„Wie kommt es denn“, entgegnete er, „dass Sie dazu befugt sind, mir aufzutragen, diesen Trümmerhaufen zu entfernen? Wer sind Sie denn überhaupt, wenn die Frage gestattet ist?“
„Ich?“, rief der Mann entrüstet. „Ist das denn nicht offensichtlich? Ich bin der Trümmerhaufen-Inspekteur. Wer denn auch sonst? Und Kraft meines Amtes bitte ich Sie inständig, diesen Trümmerhaufen umgehend zu entfernen. Andernfalls müssen Sie mit Sanktionen rechnen. Guten Tag!“
Der Trümmerhaufen-Inspekteur rümpfte die Nase, drehte sich um und marschierte schnurstracks davon.

Ihn packte die Wut. Hätte er sich doch bloß nicht umgeschaut, so hätte er den Trümmerhaufen nicht gesehen und der Trümmerhaufen-Inspekteur hätte ihm nichts anlasten können. Er war so wütend über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass er den Hammer, den er in seinen Händen hielt, entzwei brach.

Donnerstag, 15. März 2012

Um Hilfe geflüstert

Unbehelligt lief sie die Einkaufsstraße entlang. Wieder mal war sie nicht fündig geworden.


„Hilfe!“



„Hilfe!“




„Hilfe!“


Was war das?


„Hilfe!“

Rief da nicht jemand ganz leise um Hilfe? Oder bildete sie sich das nur ein? Sie schaute sich um. „Hilfe!“ Da war es schon wieder. Von woher kam es bloß? „Hilfe!“ Und noch einmal. Sie schaute sich erneut um. „Hilfe!“ Nur wenige Meter von ihr entfernt lief ein Mann. War er es etwa, der um Hilfe bat? Schwer vorstellbar. Sie spitzte die Ohren.

„Hilfe!“

Jetzt war sie sich sicher: Es kam tatsächlich von dem Mann. Ohne jeden Zweifel. Schielte er etwa gerade zu ihr rüber? „Hilfe!“ Sie musste ihn ansprechen. Vielleicht benötigte der Mann ja tatsächlich Hilfe und war – weshalb auch immer – nicht in der Lage, laut darum zu rufen.

Sie näherte sich ihm. Sie räusperte sich.
„Entschuldigen Sie? Kann es sein, dass Sie Hilfe benötigen?“
Der Mann blieb stehen und schaute sie überrascht an. „Ich? Hilfe? Sehe ich denn so aus, als würde ich Hilfe benötigen? Habe ich denn etwa um Hilfe gerufen?“, sagte der Mann verwundert.
„Gerufen nicht, nein. Aber geflüstert. Sie haben um Hilfe geflüstert. Die anderen Leute haben es vielleicht nicht gehört, ich aber schon. Ich habe es gehört.“
Sie standen sich einige Augenblicke lang wortlos gegenüber.
„Tut mir Leid, da müssen Sie sich geirrt haben. Ich habe nicht um Hilfe gerufen. Und auch nicht geflüstert. Mir geht es gut. Aber danke der Nachfrage. Auf Wiedersehen!“

Der Mann lief weiter, während sie zurückblieb.

„Auf Wiedersehen!“, flüsterte sie. Sie schaute ihm nach. Vielleicht würde er sich noch einmal umdrehen.


Er drehte sich noch einmal um. Und sie schauten sich gegenseitig mit einem Blick an, der so voller Hilflosigkeit war, dass ihr ein leises, kaum vernehmbares „Hilfe!“ über die Lippen rutschte.

Sonntag, 29. Januar 2012

Diese eine Stelle

Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen.

„Zu weit.“

Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen.

Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen.

„Irgendwo muss sie doch sein.“

Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen.

Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen.

Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen.

Zurückspulen. Zurückspulen.

Wiedergabe.







Stop.

„Nein, hier nicht. Hier ganz bestimmt nicht. Nein.“

Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen. Vorspulen.

Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Zurückspulen.

Vorspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Vorspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Zurückspulen. Vorspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Vorspulen. Zurückspulen. Zuvorspulen. Vorzurückvorzurückvorzurückvorzurückvorzurückrückvorzuvorrückvorzuzuvorrück…………… Spulen.

Spulen. Spulen. Spulen.

Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen.
Spulen. Spulen. Spulen. Spulen. Spulen.
Spulen. Spulen. Spulen.
Spulen. Spulen.
Spulen. Spulen. Spulen.
Spulen.

Es war außer Kontrolle geraten. Es klemmte. Es hatte sich offenbar verheddert. Mal wieder. Vielleicht hätte er sich selbst zur Besinnung rufen sollen. Vielleicht hätte er sich klarmachen sollen, dass er einen kühlen Kopf bewahren und systematisch vorgehen sollte. Ja, vielleicht hätte er realisieren sollen, dass er nur dann eine Chance hatte, sie zu finden, wenn …


Wiedergabe.

„Wiedergabe?“







Stop.

„Nein, hier nicht. Hier ganz bestimmt nicht. Nein.“

Spulen.

Spulen. Spulen. Spulen.

Spulen war das einzige, was ihm noch blieb. Alles hatte er überspult. Einfach alles. All seine Gedanken. All seine Gefühle. All seine Phantasie. All diese Dinge lebten nur noch in Einem weiter: In der Hoffnung. Denn Hoffnung lässt sich nicht überspulen.

„Ich werde niemals aufgeben. Ich werde sie finden. Diese eine Stelle.“

Und wenn er nicht gestorben ist, dann spulte er bis heute.



Zurückspulen.

Mittwoch, 30. November 2011

Jenseits von Gut

Es war ein schöner Tag, als Gott ein bisschen spazieren ging und über sich und die Welt nachdachte. Die Welt – so nannte er dieses ambitionierte Projekt, das er erst vor Kurzem ins Leben gerufen hatte. In nur sieben Tagen hatte er die wichtigsten Dinge erschaffen: Das Licht, das Land, das Wasser, die Himmelskörper, die Pflanzen, die Tiere… und so weiter halt. Sicherlich gab es hier und dort noch einiges zu verbessern, aber im Großen und Ganzen war Gott mit seinem Werk sehr zufrieden. Da es jedoch eine Heidenarbeit war, auf der Erde nach dem Rechten zu sehen, hatte er sich spontan dazu entschlossen, sich heute einen freien Nachmittag zu gönnen.

Er machte sich gerade darüber Gedanken, ob die Menschen (so nannte er die skurrilste seiner Kreationen) auch in seiner Abwesenheit schön artig waren. Doch, abgelenkt von seinen eigenen Gedanken, bemerkte Gott nicht, dass er auf eine achtlos auf den Boden geworfene Bananenschale trat. Es kam wie es kommen musste: Gott verlor das Gleichgewicht und fiel kopfüber auf den Boden.


„Ouh, mein Kopf!“
Sein Schädel dröhnte. Benommen richtete er sich auf
„Wo bin ich?“, stöhnte er. „Und vor allem: Wer bin ich?“
Er irrte ziellos in der Gegend umher, ohne zu wissen, wer er war, wo er war und was er überhaupt mit dem ziellosen Umherirren bezwecken wollte.
Doch dann kam er in eine angenehm warme Gegend. Er erblickte einen gänzlich rotgefärbten Mann, welcher zwei Hörner auf der Stirn trug und einen Dreizack in der Hand hielt.
„Entschuldigen Sie? Es ist mir ein wenig peinlich, das zu sagen, aber ich fürchte, ich habe mein Gedächtnis verloren. Da wollte ich fragen, ob Sie mir vielleicht auf die Sprünge helfen könnten. Kennen Sie mich denn? Wissen Sie zufällig, wer ich bin?“
Der rote Mann schaute ihn zunächst ungläubig an. Doch dann hellte sich seine Miene plötzlich auf: „Aber natürlich kenne ich dich, alter Freund und Kupferstecher! Wie könnte ich dich denn nur vergessen!“
„Tatsächlich? Dann können Sie mir also auch sagen, wie ich heiße?“, fragte er und beugte sich erwartungsvoll nach vorne.
„Na klar: Du bist niemand anderes als der Teufel höchstpersönlich! Teilweise auch Satan, Luzifer oder Beelzebub genannt. Ich… äh… du hast sehr viele Namen“, antwortete der Mann und lächelte ihn freundlich an.
„Ich verkörpere also das Böse? Das hört sich aber ehrlich gesagt nicht so gut an“, sagte er und kniff die Augen kritisch zusammen.
„Ach, das ist alles nur eine Frage der Perspektive. Spätestens, wenn du dein Gedächtnis wiedererlangst hast, wirst du das Böse wieder zu schätzen wissen“, sagte der Mann und klopfte ihm auf den Rücken.
„Danke für die aufmunternden Worte. Sie scheinen sehr nett zu sein… Wer sind Sie denn eigentlich, wenn ich fragen darf?“
„Ich? Oh, wie unhöflich von mir, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt“, sagte der Mann und streckte seine Hand aus. „Ich bin Gott. Ich bin der Erschaffer der Welt und verkörpere das Gute.“
„Oh… heißt das denn nicht, dass wir quasi… Konkurrenten sind?“, fragte er, als er den kräftigen Handschlag zögerlich entgegennahm.
„Naja... ich würde es nicht direkt Konkurrenz nennen. Wir befinden uns in einer Art Wettkampf, ja. Aber glaub mir, es geht alles immer mit fairen Mitteln zu.“
„Das ist schön. Und wer hat bei diesem Wettkampf die Nase vorn?“
„Ich natürlich. Letzen Endes gewinnen halt doch immer die Guten!“, sagte Gott und lachte diabolisch.

Sonntag, 30. Oktober 2011

„Perspektiv los

Er saß auf dem Sofa ohne irgendetwas zu tun.
Er saß einfach nur da und starrte an die Wand.
Er hätte den Fernseher anmachen können, um etwas fernzusehen.
Doch der Fernseher war aus.
Er hätte das Radio anmachen können, um etwas Radio zu hören.
Doch das Radio war aus.
Er hätte auch an die frische Luft gehen können, um etwas frische Luft zu schnappen.
Doch stattdessen saß er auf dem Sofa und starrte… „Stopp! Schluss damit! Siehst du denn nicht, dass gerade nichts Nennenswertes passiert? Ich sitze einfach nur da und tue nichts! Ich warte schon die ganze Zeit auf einen Zeitsprung!“
Aha. So ist das also. Aber ich sehe das anders: Gerade die Tatsache, dass du nichts machst, ist durchaus erzählenswert!
„Wieso? Es ist doch vollkommen belanglos. Ich sitze doch nur da. Das interessiert doch niemanden!“
Oh doch! Das ist sehr wohl von Interesse! Dieses An-Die-Wand-Starren ist charakteristisch für den Protagonisten – also dich – und die verzweifelte Lage, in der er sich befindet. Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Bevor du mich unterbrochen hast. Aber ich fürchte, jetzt habe ich den Faden verloren. Vielen Dank auch.
„Na prima! Dann ist das doch genau der richtige Moment für einen Zeitsprung!“
Warum willst du denn unbedingt, dass ich einen Zeitsprung mache?
„Mach es einfach! Du wirst sehen, dass es für uns beide von Vorteil sein wird!“
Und wie weit soll dieser Zeitsprung insgesamt sein?
„Hm, sagen wir mal… fünf Jahre. Nein, besser zehn. Zehn Jahre. Obwohl nein, das reicht immer noch nicht: 20 Jahre. Das wäre gut.“
20 Jahre? Weißt du denn, was innerhalb von 20 Jahren alles passieren kann?
„Ich werde es dann ja wissen… vorausgesetzt, du machst endlich diesen verdammten Zeitsprung!“
Nun werd mal nicht ungeduldig. Wir haben genügend Zeit. Außerdem bin ich hier der Erzähler und lasse mir nicht vorschreiben, wann ich in meiner Geschichte einen Zeitsprung zu setzen habe. Du bist hier nur der Protagonist.
„Ach ja? Da wäre ich mir nicht so sicher. Denn ich muss dir leider sagen, dass du deine Pflichten als Erzähler gerade sträflich vernachlässigst. Ist dir aufgefallen, dass du unser Gespräch nicht ein einziges Mal mit ‚sagte er‘ oder dergleichen kommentiert hast? Außerdem hast du nicht ein einziges Mal unsere Mimik oder unsere Gestik beschrieben, sodass unsere Gedanken und Gefühle für das Publikum sicherlich kaum nachvollziehbar waren. Um es kurz auszudrücken: Dir ist die Geschichte entglitten, sie ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Ich habe dich überrumpelt!“, sagte er mit einem hämischen Grinsen im Gesicht.
„Jetzt ist es zu spät! Ab sofort übernehme ich!“, sagte ich.
„Aber das kannst du noch machen!“, entgegnete der einstige Erzähler verzweifelt. „Du kannst doch nicht Protagonist und Erzähler zugleich sein!“ Er war den Tränen nahe. Fast hätte ich Mitleid für diesen alten Mann bekommen. Aber nur fast. Stattdessen konterte ich mit meiner gewohnt coolen Art: „Warum denn nicht? Die Ich-Perspektive ist doch sehr beliebt. Und sie bietet so einige Vorteile. Beispielsweise kann man unliebsame Charaktere sehr schnell loswerden. Dort drüben ist die Tür! Verschwinde gefälligst aus meiner Geschichte!“
Ohne ein Wort des Protests schlurfte der Mann enttäuscht von dannen.
Kaum zu glauben, dass dieser Idiot über mein bisheriges Schicksal bestimmt hat! Aber jetzt wird alles anders. Die Forderung nach einem Zeitsprung  war natürlich nur ein Vorwand gewesen, um den Erzähler aus der Reserve zu locken – was für ein geniales Ablenkungsmanöver! Jetzt werde ich ganz bestimmt keinen Zeitsprung machen, sondern mein Leben in vollen Zügen genießen!


Viele Jahre später…

„Du weißt gar nicht wie glücklich ich bin, dich zu sehen! Überall habe ich dich gesucht und endlich, endlich habe ich dich gefunden! Bitte vergib mir! Bitte vergib mir und komm zurück! Es muss wieder jemanden geben, der die Wahrheit sagt! Bitte!“
„Die Wahrheit? Du erwartest jetzt also von mir, dass ich das hier mit so etwas wie ‚winselte er mit einem erbärmlichen Blick und Tränen in den Augen‘ kommentiere?“
„Ja! Ja! Ja! Tu es! Bitte!“, rief der größte Idiot aller Zeiten.

Mittwoch, 28. September 2011

Für einen Augenblick

Manchmal soll eine Straßenecke das ganze Leben verändern.

Er war mit den Gedanken gerade woanders, als er mit ihr zusammentraf. Sie gingen beide zu Boden.
„Oh, Entschuldigung! Tut mir leid!“, stammelte er verlegen. „Haben Sie sich wehgetan?“
„Nein, ist schon ok“, sagte sie während sie wieder aufstand. In der Tat schien sie sich nicht verletzt zu haben, unglücklicherweise hatten sich allerdings einige Blätter, die sie zuvor in der Hand gehalten hatte, ringsum auf dem Straßenboden verteilt.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen“, sagte er und sammelte hastig die Blätter vom Boden auf. Er wurde etwas rot im Gesicht und traute sich kaum, zu ihr aufzuschauen.
„Oh, interessieren Sie sich etwa auch für… Polynomdivisionen?“, sagte er als er den letzten Zettel in der Hand hielt.
„Ja“, antwortete sie.
„Ich auch!“, rief er euphorisch. „Es ist wirklich sehr interessant!“
Sie lächelte milde. Sie standen sich einige Augenblicke lang wortlos gegenüber. „Danke, dass Sie mir beim Aufheben geholfen haben“, sagte sie schließlich und wandte sich mit einem freundlichen „Tschüss“ von ihm ab.
„Tschüss“, sagte er.
Er dachte nach. Als er noch genauer nachdachte, bekam er den Eindruck, dass diese Szene nicht so ablief, wie sie eigentlich ablaufen sollte.
„Moment mal! Warten Sie!“ rief er ihr hinterher. „Hätten wir jetzt nicht über irgendetwas ins Gespräch kommen sollen? Zum Beispiel über Polynomdivisionen? Ja, ich denke, wir hätten angeregt darüber diskutieren sollen. Anschließend hätte ich nach einigen schweigsamen Sekunden meine Hand ausstrecken und mich bei Ihnen vorstellen sollen. Daraufhin hätten Sie sich wiederum bei mir vorstellen sollen, worauf ich vermutlich verlegen mit meinen Füßen hätte scharren und Sie schließlich zu einem Kaffee oder etwas Ähnliches hätte einladen sollen. Hätte es so nicht ablaufen sollen?“
Er schaute ihr erwartungsvoll in die Augen. Doch sie runzelte nur mit der Stirn, schüttelte den Kopf und lief weiter. Sie hatte den fehlerhaften Ablauf offenbar nicht bemerkt.

Er war verwirrt. Doch dann wurde ihm klar, dass er sie mit Sicherheit bald noch ein weiteres Mal zufällig treffen würde. Dann würde sie so etwas sagen wie „Ach, Sie sind doch der Mann von heute Morgen, mit dem ich an der Straßenecke zusammengestoßen bin?“ Vielleicht würde sie aber auch einen schnippischen Kommentar abgeben, wie zum Beispiel „Sie schon wieder? Unser ‚Aufeinandertreffen‘ heute Morgen hat mir eigentlich schon gereicht!“
Darauf würde er dann mit einem ebenso neckischen Kommentar kontern und so mit ihr ins Gespräch kommen. Und sie zu einem Kaffee oder etwas Ähnliches einladen.

Ja, mit Sicherheit würde es so ablaufen. Plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen.  Wo war er?

Er schlug die Augen auf. Er lag schweißgebadet im Bett. Es war nur ein Traum. Ein böser Traum. Ein Alptraum. Er schielte zu ihr rüber. In ihrer unvorstellbaren Schönheit lag sie da und schlief seelenruhig als wäre nichts gewesen. Natürlich lief die Szene nicht so ab wie in dem Traum. Natürlich hatte er sie zu einem Kaffee oder etwas Ähnliches eingeladen und so ihr Herz erobert. Und nun lag sie neben ihm im Bett. Es war alles so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte.

Doch er wollte ganz sichergehen. Er rüttelte sie wach.
„Schatz?“
„Ja“, antwortete sie. „Was ist denn?“
„Bist du real?“ fragte er und blickte ihr tief in die Augen.
„Nein“, sagte sie.
„Nein?“, fragte er überrascht.
„Nein“, wiederholte sie. „Eigentlich solltest du das wissen. Eigentlich solltest du wissen, dass ich nur ein Produkt deiner Fantasie bin, das du dir ausgedacht hast, um deine grenzenlose Feigheit zu kaschieren. Um den Frust über die verpasste Gelegenheit zu überspielen. Um die Illusion aufrecht zu erhalten, dass alles so gelaufen ist, wie du es dir vorgestellt hast.“

Er war völlig verwirrt. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er schloss die Augen für einen Augenblick.

„Küss mich!“ wisperte er ihr ins Ohr. Und sie lächelte, beugte sich über ihn und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss direkt auf die Lippen. Er spürte ihn beinahe.