"Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du zwar weiter existieren, aber aufgehört haben, zu leben." - Mark Twain

Mittwoch, 28. September 2011

Für einen Augenblick

Manchmal soll eine Straßenecke das ganze Leben verändern.

Er war mit den Gedanken gerade woanders, als er mit ihr zusammentraf. Sie gingen beide zu Boden.
„Oh, Entschuldigung! Tut mir leid!“, stammelte er verlegen. „Haben Sie sich wehgetan?“
„Nein, ist schon ok“, sagte sie während sie wieder aufstand. In der Tat schien sie sich nicht verletzt zu haben, unglücklicherweise hatten sich allerdings einige Blätter, die sie zuvor in der Hand gehalten hatte, ringsum auf dem Straßenboden verteilt.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen“, sagte er und sammelte hastig die Blätter vom Boden auf. Er wurde etwas rot im Gesicht und traute sich kaum, zu ihr aufzuschauen.
„Oh, interessieren Sie sich etwa auch für… Polynomdivisionen?“, sagte er als er den letzten Zettel in der Hand hielt.
„Ja“, antwortete sie.
„Ich auch!“, rief er euphorisch. „Es ist wirklich sehr interessant!“
Sie lächelte milde. Sie standen sich einige Augenblicke lang wortlos gegenüber. „Danke, dass Sie mir beim Aufheben geholfen haben“, sagte sie schließlich und wandte sich mit einem freundlichen „Tschüss“ von ihm ab.
„Tschüss“, sagte er.
Er dachte nach. Als er noch genauer nachdachte, bekam er den Eindruck, dass diese Szene nicht so ablief, wie sie eigentlich ablaufen sollte.
„Moment mal! Warten Sie!“ rief er ihr hinterher. „Hätten wir jetzt nicht über irgendetwas ins Gespräch kommen sollen? Zum Beispiel über Polynomdivisionen? Ja, ich denke, wir hätten angeregt darüber diskutieren sollen. Anschließend hätte ich nach einigen schweigsamen Sekunden meine Hand ausstrecken und mich bei Ihnen vorstellen sollen. Daraufhin hätten Sie sich wiederum bei mir vorstellen sollen, worauf ich vermutlich verlegen mit meinen Füßen hätte scharren und Sie schließlich zu einem Kaffee oder etwas Ähnliches hätte einladen sollen. Hätte es so nicht ablaufen sollen?“
Er schaute ihr erwartungsvoll in die Augen. Doch sie runzelte nur mit der Stirn, schüttelte den Kopf und lief weiter. Sie hatte den fehlerhaften Ablauf offenbar nicht bemerkt.

Er war verwirrt. Doch dann wurde ihm klar, dass er sie mit Sicherheit bald noch ein weiteres Mal zufällig treffen würde. Dann würde sie so etwas sagen wie „Ach, Sie sind doch der Mann von heute Morgen, mit dem ich an der Straßenecke zusammengestoßen bin?“ Vielleicht würde sie aber auch einen schnippischen Kommentar abgeben, wie zum Beispiel „Sie schon wieder? Unser ‚Aufeinandertreffen‘ heute Morgen hat mir eigentlich schon gereicht!“
Darauf würde er dann mit einem ebenso neckischen Kommentar kontern und so mit ihr ins Gespräch kommen. Und sie zu einem Kaffee oder etwas Ähnliches einladen.

Ja, mit Sicherheit würde es so ablaufen. Plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen.  Wo war er?

Er schlug die Augen auf. Er lag schweißgebadet im Bett. Es war nur ein Traum. Ein böser Traum. Ein Alptraum. Er schielte zu ihr rüber. In ihrer unvorstellbaren Schönheit lag sie da und schlief seelenruhig als wäre nichts gewesen. Natürlich lief die Szene nicht so ab wie in dem Traum. Natürlich hatte er sie zu einem Kaffee oder etwas Ähnliches eingeladen und so ihr Herz erobert. Und nun lag sie neben ihm im Bett. Es war alles so gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte.

Doch er wollte ganz sichergehen. Er rüttelte sie wach.
„Schatz?“
„Ja“, antwortete sie. „Was ist denn?“
„Bist du real?“ fragte er und blickte ihr tief in die Augen.
„Nein“, sagte sie.
„Nein?“, fragte er überrascht.
„Nein“, wiederholte sie. „Eigentlich solltest du das wissen. Eigentlich solltest du wissen, dass ich nur ein Produkt deiner Fantasie bin, das du dir ausgedacht hast, um deine grenzenlose Feigheit zu kaschieren. Um den Frust über die verpasste Gelegenheit zu überspielen. Um die Illusion aufrecht zu erhalten, dass alles so gelaufen ist, wie du es dir vorgestellt hast.“

Er war völlig verwirrt. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er schloss die Augen für einen Augenblick.

„Küss mich!“ wisperte er ihr ins Ohr. Und sie lächelte, beugte sich über ihn und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss direkt auf die Lippen. Er spürte ihn beinahe.

Freitag, 9. September 2011

"Duell"

Es war der alles entscheidende Showdown. Schweißperlen zeichneten sich auf seiner Stirn ab. Er blickte seinem Gegenüber in die Augen. Es war die Zukunft. Mit der hatte er schon seit Längerem Probleme. Und sie hatte sich offenbar dazu entschlossen, diese Probleme in einem finalen, alles entscheidenden Duell aus der Welt zu schaffen – ein für alle Mal.

Mit gespielter Entschlossenheit machte er einen Schritt auf die Zukunft zu, doch gleichzeitig kam auch die Zukunft einen Schritt näher. Es war ein reines Nervenspiel. Und die Chancen standen nicht allzu gut, dass er es gewinnen würde.

Mit einem coolen, scheinbar geistesabwesenden Blick schaute ihn die Zukunft an. Doch er wusste genau, dass sie jeden Augenblick dazu bereit war, blitzschnell ihre Waffe zu ziehen und den tödlichen Schuss auf ihn abzufeuern.
Er gab sich dem hoffnungslosen Versuch hin, genau so cool wie die Zukunft zu wirken. In Wirklichkeit wäre er aber am liebsten geflohen. In irgendeine Himmelsrichtung. Egal wohin. Doch vor der Zukunft gab es kein Entrinnen. Er hatte keine andere Wahl: Er musste sich der Zukunft stellen und diesen erbitternden Zweikampf nach Möglichkeit für sich entscheiden.


Es war der alles entscheidende Showdown. Schweißperlen zeichneten sich auf seiner Stirn ab. Er blickte seinem Gegenüber in die Augen. Es war die Vergangenheit. Mit der hatte er schon seit Längerem Probleme. Und sie hatte sich offenbar dazu entschlossen, diese Probleme in einem finalen, alles entscheidenden Duell aus der Welt zu schaffen – ein für alle Mal.

Mit gespielter Entschlossenheit machte er einen Schritt auf die Vergangenheit zu, doch gleichzeitig kam auch die Vergangenheit einen Schritt näher. Es war ein reines Nervenspiel. Und die Chancen standen nicht allzu gut, dass er es gewinnen würde.

Mit einem coolen, scheinbar geistesabwesenden Blick schaute ihn die Vergangenheit an. Doch er wusste genau, dass sie jeden Augenblick dazu bereit war, blitzschnell ihre Waffe zu ziehen und den tödlichen Schuss auf ihn abzufeuern.
Er gab sich dem hoffnungslosen Versuch hin, genau so cool wie die Vergangenheit zu wirken. In Wirklichkeit wäre er aber am liebsten geflohen. In irgendeine Himmelsrichtung. Egal wohin. Doch die Vergangenheit holte jeden ein. Er hatte keine andere Wahl: Er musste sich der Vergangenheit stellen und diesen erbitternden Zweikampf nach Möglichkeit für sich entscheiden.


Beide zogen gleichzeitig.
Ein Schuss ertönte. Die Gegenwart sank zu Boden.