"Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du zwar weiter existieren, aber aufgehört haben, zu leben." - Mark Twain

Sonntag, 30. Oktober 2011

„Perspektiv los

Er saß auf dem Sofa ohne irgendetwas zu tun.
Er saß einfach nur da und starrte an die Wand.
Er hätte den Fernseher anmachen können, um etwas fernzusehen.
Doch der Fernseher war aus.
Er hätte das Radio anmachen können, um etwas Radio zu hören.
Doch das Radio war aus.
Er hätte auch an die frische Luft gehen können, um etwas frische Luft zu schnappen.
Doch stattdessen saß er auf dem Sofa und starrte… „Stopp! Schluss damit! Siehst du denn nicht, dass gerade nichts Nennenswertes passiert? Ich sitze einfach nur da und tue nichts! Ich warte schon die ganze Zeit auf einen Zeitsprung!“
Aha. So ist das also. Aber ich sehe das anders: Gerade die Tatsache, dass du nichts machst, ist durchaus erzählenswert!
„Wieso? Es ist doch vollkommen belanglos. Ich sitze doch nur da. Das interessiert doch niemanden!“
Oh doch! Das ist sehr wohl von Interesse! Dieses An-Die-Wand-Starren ist charakteristisch für den Protagonisten – also dich – und die verzweifelte Lage, in der er sich befindet. Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Bevor du mich unterbrochen hast. Aber ich fürchte, jetzt habe ich den Faden verloren. Vielen Dank auch.
„Na prima! Dann ist das doch genau der richtige Moment für einen Zeitsprung!“
Warum willst du denn unbedingt, dass ich einen Zeitsprung mache?
„Mach es einfach! Du wirst sehen, dass es für uns beide von Vorteil sein wird!“
Und wie weit soll dieser Zeitsprung insgesamt sein?
„Hm, sagen wir mal… fünf Jahre. Nein, besser zehn. Zehn Jahre. Obwohl nein, das reicht immer noch nicht: 20 Jahre. Das wäre gut.“
20 Jahre? Weißt du denn, was innerhalb von 20 Jahren alles passieren kann?
„Ich werde es dann ja wissen… vorausgesetzt, du machst endlich diesen verdammten Zeitsprung!“
Nun werd mal nicht ungeduldig. Wir haben genügend Zeit. Außerdem bin ich hier der Erzähler und lasse mir nicht vorschreiben, wann ich in meiner Geschichte einen Zeitsprung zu setzen habe. Du bist hier nur der Protagonist.
„Ach ja? Da wäre ich mir nicht so sicher. Denn ich muss dir leider sagen, dass du deine Pflichten als Erzähler gerade sträflich vernachlässigst. Ist dir aufgefallen, dass du unser Gespräch nicht ein einziges Mal mit ‚sagte er‘ oder dergleichen kommentiert hast? Außerdem hast du nicht ein einziges Mal unsere Mimik oder unsere Gestik beschrieben, sodass unsere Gedanken und Gefühle für das Publikum sicherlich kaum nachvollziehbar waren. Um es kurz auszudrücken: Dir ist die Geschichte entglitten, sie ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Ich habe dich überrumpelt!“, sagte er mit einem hämischen Grinsen im Gesicht.
„Jetzt ist es zu spät! Ab sofort übernehme ich!“, sagte ich.
„Aber das kannst du noch machen!“, entgegnete der einstige Erzähler verzweifelt. „Du kannst doch nicht Protagonist und Erzähler zugleich sein!“ Er war den Tränen nahe. Fast hätte ich Mitleid für diesen alten Mann bekommen. Aber nur fast. Stattdessen konterte ich mit meiner gewohnt coolen Art: „Warum denn nicht? Die Ich-Perspektive ist doch sehr beliebt. Und sie bietet so einige Vorteile. Beispielsweise kann man unliebsame Charaktere sehr schnell loswerden. Dort drüben ist die Tür! Verschwinde gefälligst aus meiner Geschichte!“
Ohne ein Wort des Protests schlurfte der Mann enttäuscht von dannen.
Kaum zu glauben, dass dieser Idiot über mein bisheriges Schicksal bestimmt hat! Aber jetzt wird alles anders. Die Forderung nach einem Zeitsprung  war natürlich nur ein Vorwand gewesen, um den Erzähler aus der Reserve zu locken – was für ein geniales Ablenkungsmanöver! Jetzt werde ich ganz bestimmt keinen Zeitsprung machen, sondern mein Leben in vollen Zügen genießen!


Viele Jahre später…

„Du weißt gar nicht wie glücklich ich bin, dich zu sehen! Überall habe ich dich gesucht und endlich, endlich habe ich dich gefunden! Bitte vergib mir! Bitte vergib mir und komm zurück! Es muss wieder jemanden geben, der die Wahrheit sagt! Bitte!“
„Die Wahrheit? Du erwartest jetzt also von mir, dass ich das hier mit so etwas wie ‚winselte er mit einem erbärmlichen Blick und Tränen in den Augen‘ kommentiere?“
„Ja! Ja! Ja! Tu es! Bitte!“, rief der größte Idiot aller Zeiten.

4 Kommentare:

  1. Wieder einmal hast du es geschafft, eine interessante Grundidee überzeugend zu entwickeln! Insbesondere der Wechsel zwischen den verschiedenen Ebenen ist dir wirklich gelungen. Darüber hinaus gefällt mir natürlich auch das Ende. Hat dich da irgendwie der Titel "Sechs Personen suchen einen Autor" inspiriert?

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  2. Danke an meine mehr oder weniger einzigen (?) beiden Stammleser! ;)
    Nein, "Sechs Personen suchen einen Autor" kenne ich nicht. Meine erste, grundsätzliche Idee war eigentlich nur, dass eine Figur von dem Erzähler einen Zeitsprung fordert. Das mit dem Wechsel des Erzählers (und dann auch die tatsächliche Durchführung des Zeitsprungs) ist mir dann erst danach eingefallen.

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  3. Gefällt mir ganz gut.

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